„Mücken, die im Licht schwirren“

Im März 2021 war der Kieler Künstler Rolf Reiner Maria Borchard bei mir in der Galerie für ein Kunstgespräch zu Gast, das live auf Instagram gesendet wurde. Ich habe mit ihm über Exponate der Ausstellung „Architektur – Figur– Landschaft“ gesprochen. Eine aufbereitete Form des Interviews ist nun hier nachlesbar, das aufgezeichnete Gespräch finden Sie auf Instagram.

Simone Menne (SME): Herr Borchard, was macht die Pandemie mit Ihrem Werk und Ihrem Schaffen?

Rolf Reiner Maria Borchard (RMB): Wenn man plötzlich eingeschränkt wird, merkt man: Man wird produktiv. Ich habe im Dezember 2019 mit den grafischen Arbeiten begonnen. Als der Lockdown beschlossen wurde, habe ich auch direkt an Bildern zum Thema Corona gearbeitet und sie entsprechend benannt. Die Pandemie ist also in die Grafiken eingeflossen – eine Art Intensivierung der Arbeit durch die besondere Situation.

 

SME: Wie sind die Bilder hier in der Ausstellung entstanden?

RMB: Wir können uns die Entstehung des Bildes „Der Hellseher“ am Monitor ansehen. Ich zeige Ihnen eine Animation, wie sie mit dem Programm Pages möglich ist.

Ich habe eine gewisse Vorstellung, was entstehen soll. Diese Vorstellung ist aber nicht fertig. Sie entwickelt sich meistens auch während der Arbeit.

 

SME: Wie lange haben Sie am Bild „Der Hellseher“ gearbeitet?

RMB: Etwa eine halbe Stunde. Es gibt aber Bilder, für die ich viel länger brauche. Wie ein Maler im Atelier habe ich verschiedene Bilder auf dem Ipad, an denen ich immer wieder arbeite, bis sie fertig sind.

 

SME: Für welche Grafik in der Ausstellung haben Sie mehrere Tage benötigt?

RMB: Beispielsweise für „Architektur malen“. Das Bild ist in der Mitte geteilt: Rechts befindet sich ein gemaltes Bild auf einer Staffelei. Links ist eine zerstörte Stadt und eine Turmruine zu sehen. Beide Teile zeigen unterschiedliche Situationen einer zerstörten Stadt. Die Realität links gibt es so nicht, und das Bild rechts zeigt nicht, was links zu sehen ist. Es handelt sich also um zwei Phantasiebilder, die kompositorisch zusammenpassen. Es hat mehrere Tage gedauert, beide Teile unterschiedlich zu entwerfen und zugleich so zu formen, dass sie zusammenpassen.

 

SME: Ein Bild mit dem schlichten Titel „Licht“ gefällt mir besonders gut. Sie haben mir gesagt, das seien Tänzer.

RMB: Das können Tänzer oder auch Eiskunstläufer sein. Das Bild behält sich seine Offenheit und lässt Assoziationen zu. Man kann eine Person mit Fallschirm sehen, eine auf Zehenspitzen und ein Fahrrad – oder Mücken, die im Licht schwirren. Gereizt hat mich bei diesem Bild die Idee vom Licht am Ende des Tunnels und die Frage, was in und mit diesem Licht passiert.

 

SME: Diese Leichtigkeit gibt es auch im Bild mit den Elfen.

RMB: Das Bild „Für E.W. Ney“ wollte ich dem gleichnamigen Künstler schenken. Es sollte locker und von großer Freude getragen sein. Diese Leichtigkeit steht im Gegensatz zu den festen und klaren Formen und Farben seines großartigen Spätwerks.

 

SME: Das Schöne an Kunst ist die Ambivalenz – ihre Offenheit für eine andere Interpretation. Bei einem Bild der Ausstellung bin ich mir unsicher, was es bedeutet. Ich sehe einen Gott, der einen Vogel gebiert.

RMB: Hinter „Figur 21,3 – Vogelbiss“ verbirgt sich eine traurige Geschichte – eine Jugenderinnerung. In der Straße, in der wir gewohnt haben, gab es einen etwa fünfjährigen Jungen. Er hatte die Angewohnheit, Vögel zu fangen und ihnen den Kopf abzubeißen. Diese brutalen Taten verfolgen mich seit jener Zeit und ich bin froh, dass ich endlich eine Bildform dafür gefunden habe. Durch die Darstellung verflüchtigt sich der Schrecken der Brutalität ein wenig.

 

SME: Apropos Brutalität – Sie haben sehr aktuelle, eindringliche Bilder zu Weißrussland erstellt.

RMB. Ja, eine in sich geschlossene Serie. Man sieht darauf die große Geste der Unterdrückung, überall Grenzen, die Angst der Menschen, und die Brutalität, mit der durchgegriffen wird und – als Folge – den Krieg.

Wir wissen, dass es immer wieder zu Kriegen kommen kann. Diese Bilder beziehen sich entsprechend nicht nur auf Belarus, sondern zeigen das Kriegsleid auf der ganzen Welt. Sie sind allgemeingültig.

 

SME: Zum Ende sollten wir noch ein beschwingtes Bild besprechen, etwa „Vogel 4“.

RMB: Ich lebe am Wasser und habe einmal einen jungen Schwan über das Wasser laufen sehen. Das hat mich so beeindruckt, dass ich die Szene darstellen musste. Es gibt eben beides, das Brutale und das Schöne. Beides ist ein Stück Wahrheit. Und beides müssen wir als Künstler aufnehmen.

SME: Was für ein herrlicher Abschluss! Vielen herzlichen Dank!

 
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